beograd gazela
deutsch    |    english    |    srpski    |    romani

Pressespiegel


Rezension 64

(...)
Beograd Gazela gewährt einen Einblick in eine Welt, die selten wahrgenommen wird und die sich abschottet - sich nicht zuletzt deshalb abschottet, weil ihre Bewohner immer wieder Ziel rassistischer und anderweitig motivierter, aber nicht minder brutaler Diskriminierung sind. In diesem Buch werden die Bewohner in ihrem Leben ernst genommen. Das Buch beklagt nicht das Elend an sich, sondern setzt sich mit den konkret erfahrbaren Missständen auseinander. Nicht das Wohnen in Gazela an sich wird angeprangert, sondern beispielsweise die mangelhafte Anbindung an die städtische Infrastruktur.

beograd gazela

Das Buch will "eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Lebenssituation von Roma in Belgrad gewährleisten" (S. 11). Angesichts dessen, dass die Roma Europas größte Minderheit darstellen und trotz den Bemühungen der "Roma-Dekade 2005-2015"[3] noch immer ausgeklammert, diskriminiert und an den Rand gedrängt sind, ist dies Motivation genug. Eine Bestandsaufnahme gelingt dem Buch auf alle Fälle - über die Art und Weise mag man geteilter Meinung sein. Dem Stellenwert des Buches als einem Versuch, ungesehenes Elend mitten in Europa, das auch als Nebenerscheinungen von modernem Städtebau gelesen werden kann, sichtbar auf der Mikroebene zu beschreiben, tut dies keinen Abbruch. Als Einstieg in eine Beschäftigung mit der Materie, als Kennenlernen von Ort und Menschen ist das grafisch ansprechende und sorgfältig gestaltete Buch gern empfohlen.

Nicole Münnich, Osteuropa-Institut - FU Berlin, 30. Jänner 2009


„Beograd Gazela“ – Leben in Baracken

(...)
"Beograd Gazela" ist ein ungewöhnliches Projekt, ein irritierender und gleichwohl gelungener "Spagat zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Auseinandersetzung": Drei westeuropäische, privilegierte Kunstschaffende treffen auf eine marginalisierte und diskriminierte Minderheit, überwiegend serbische Roma, daneben Albanisch sprechende Ashkali, Flüchtlinge aus dem Kosovo, Wirtschaftsemigranten und Alteingesessene. Die österreichischen Besucher sprechen weder Serbisch noch Romani, erst Dolmetscher ermöglichen die Kommunikation: "Jene, die mit uns gesprochen haben, taten es aus sehr unterschiedlichen Gründen: Einige mochten uns einfach, andere waren froh, dass sich jemand von Außerhalb für sie interessiert, es gab auch welche, die sich davon einen Vorteil erhofften", so Eduard Freudmann.

beograd gazela

(...)
Der negativen Fremdzuschreibung korrespondiert ein brüchiges Selbstbild der Slumbewohner; Unsicherheit, Resignation und auch Scham führen in einen Teufelskreis von Ausgrenzung, Ablehnung und Verelendung. Kann man diesen durchbrechen? Mit einem "Reiseführer" allein nicht. Er kann im besten Fall eine Möglichkeit sein, genau hinzusehen, wahrzunehmen, dass mitten in Belgrad Menschen in Armut, Schmutz, unter unglaublichen hygienischen Bedingungen ihr Leben fristen, Menschen, denen der Zugang zur Mehrheitsgesellschaft versperrt ist - aus Unkenntnis, bewusster Ablehnung, aus mangelnder sozialer Sensibilität.

Monika Thees, Die Berliner Literaturkritik, 12. Jänner 2009


Führer in den Slum | Vodinaschi ando slum

(...)
Tumaro gondo te na irinel pe, mint o Freudmann taj o Gülcü andale projektiha pumari diplomakeri buti upri akademija la sikadipeskera kunstatar pisinde taj vaschoda o cilo ojs kunst aun dikle, ande jek igen sano gondo, ande savo kunst na palo estetischi, ham pal etischi kriterijen mirim ol.

Die Presse: „So uso Gazela-projekto, savo akan ande jek kenva ari al, kunst hi, pedar oda schaj schtrajtim ol.“ Meg feder o pisinipe la Neuen Züricher Zeitungatar: „But sina i söbst refleksijon le autorendar ... o igen latsche kipi buteder taj latscheder komentartscha tel te dijanhi.“ Taj tschatsche hi.

Nisaj kunst, jek vodinaschi ando slum. Taj latscho ovlahi te dschanel, saj phariptschenge o dschene andar Gazela prik terdschon taj saj strategiji on entviklinde, kaj on len schaj latscharen.

beograd gazela

I kenva del jek and dikipe ando na soralo khetanipe le tschoripestar taj leskere socijali naschipestar – te ande ada vilago o vakeripe pedar i entsolidarisirung hi, akor o entsolidarisirti efekto le tschoripestar anglo atscha peske te terdschonahi taj o igen soralo dschumipe peske angle te terdscharnahi, savo upre jek paschlol, te sako di odolestar iste dschis, so upro nojoskero dombo lakes. O barikanipe taj o latschipe ande aja kenva hi o latscho pisinipe, savo gejng saki hamischanipe hi: Upre jek harni roas Gazelate schaj but siklim ol.

Michael Wogg, d|Roma, Herbst|Terno džend 2008


Flüchtig

Das Buch, erschienen im auf Roma-Literatur spezialisierten Drava-Verlag, bietet einen reichen Einblick in den Alltag von Gazela. Der "Reiseführer in eine Elendssiedlung" ist mit seinen umfassenden Fotos, Wegeplänen, Übersetzungshilfen und nützlichen Adressen nicht nur ein symbolisches Format, sondern fordert zum freundlcihen Besuch de rMenschen und ihrer informellen Siedlung auf. Das Erkundungsteam blieb länger als bei Journalisten oder Hilfsorganisationen üblich. Jedoch fragt man sich schon an wen sich etwa de auf Deutsch publizierte Liste mit "Einkaufsmöglichkeiten" wendet? Letztendlich bleibe ich ratlos, ob diese Publikation als Stadt- und Sozialstudie, Kulturführer oder doch lieber als Foto-Kunst-Buch betrachten soll?

beograd gazela

Jochen Becker, Camera Austria, Ausgabe 103-104 2008


"Beograd Gazela"

Dieser ungewöhnliche Reiseführer ist die Arbeit dreier Kunststudenten aus Wien, denen mit dem Buch der Spagat zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Auseinandersetzung gelungen ist. Akribisch, sachlich, fast emotionslos, doch ganz klar Position beziehend schreiben sie den Alltag der Slumbewohner, meist Roma, und erzählen damit deren jüngere Geschichte in den Balkanländern.

(...)
Es ist ein beeindruckendes Projekt, das die drei Stundenten - mit Hilfe professioneller Fotografen - auf die Beine gestellt haben. Die Beschreibung der Lebensumstände geht einher mit erschütternden Fotografien der Armut, aber ebenso mit lakonischen Informationen über Anfahrt oder Verhaltenstipps.

beograd gazela

Zwei Drittel einer jeden Seite sind dem Text und den Fotografien gewidmet. Im unteren Drittel ist eine Diskussion wiedergegeben, die bei der Präsentation der Arbeit im März 2008 stattgefunden hat und in der die Autoren ihre Motive, ihre Herangehensweise beschreiben und begründen. Das macht diesen Reiseführer, der eigentlich keiner ist, zu einem bewundernswerten Blick in ein extremes Gebiet europäischen Lebens.

Nicole Rodriguez, HR online, 26. Juli 2008


Die Sache mit den Brotresten

(...)
Unaufgeregt und sachlich ist dieses Buch, wie im Untertitel angegeben, in der Art eines Reiseführers aufgebaut. Darin liegt, obwohl das bei einem solchen Ansatz zu befürchten wäre, keine Spur von Zynismus. Die dem Leser vertraute Form erlaubt es den Autoren, in sachlicher Distanz zu berichten, und lässt den ungewöhnlichen Gegenstand noch deutlicher hervortreten. Da werden die Straßen und Plätze des Slums mit derselben Genauigkeit geschildert wie in herkömmlichen Reiseführern die Wegbeschreibungen zu den Sehenswürdigkeiten von Paris oder London: "An dieser Stelle", heißt es etwa, "befindet sich meistens eine Wasserlache, deren Größe je nach Niederschlagsmenge variiert. Während FußgängerInnen auf einen seitlichen Pfad ausweichen können, der über allerlei Sperrmüll führt, kann sie bei geringer Tiefe mit motorbetriebenen Fahrzeugen durchquert werden, allerdings nicht mit Hand- und Tretwagen."

beograd gazela

(...) Aggermann, Freudmann und Gülcü machen es sich nicht leicht. Sie klagen nicht einen Unsichtbaren an, sondern beschreiben, wie kam, was ist. Sie haben eine Anthologie des Alltags über das Leben in der Barackenwelt zusammengestellt, wo Kinder eine aus Sperrmüllfunden zusammengezimmerte Jugend verbringen, der meist ein kurzes Erwachsenenleben folgt.

Michael Martens, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.09.2008


atlas des elends

beograd gazela

Anna Soucek, Ö1 Leporello, 3.9.2008


ReisefÜhrer durch eine Armutsgesellschaft.

Ist Gazela eine Sehenswürdigkeit? Im eigentlichen Sinn des Wortes: ja. Mit dem Reiseführer ausgestattet, erhält man einen Einblick in den Alltag der Bewohner und lernt auch vieles über die serbische Mehrheitsgesellschaft, deren Rand die Siedlung markiert. Aber die Sache ist nicht unproblematisch. Denn die meisten Besucher werden sich fehl am Platz fühlen, wenn sie zwischen den Hütten aus Backstein, Plastic und Karton umherspazieren. Sollen sie den Coiffeur suchen, das einzige Gewerbe auf dem Areal? Oder die Wasserstelle begutachten, wo Frauen und Kinder mit Kanistern das oft verschmutzte Trinkwasser schöpfen?
(...)

beograd gazela

(...)
Viel lernen kann man in diesem Buch über die Infrastruktur und die soziale Gliederung der Siedlung. Über die Familie als wichtigsten Solidarverband und über die Hierarchie dieser Elendsgesellschaft, die
nach Herkunft, Beschäftigung und Aufenthaltsdauer unterscheidet – Armut macht nicht gleich. Eindrücklich dargestellt wird einer der Hauptgründe für das Elend vieler Roma: das Unvermögen, sich zu organisieren. Es scheint unmöglich, Macht zu delegieren und «Vertreter» zu bestimmen, welche sich für die gebündelten Interessen der Siedler in der Aussenwelt wehren. Wohl hilft man sich im Alltag immer wieder gegenseitig aus, doch letztlich überwiegt das Misstrauen in dieser erstaunlich heterogenen Gesellschaft.

(...)
In einem Lauftext am unteren Seitenrand diskutieren Kulturschaffende mit ihnen die Frage, ob und wie das Verfassen eines Reiseführers ins Elend moralisch richtig sei. Das Resultat – Aufklärung –rechtfertigt den Ansatz jedenfalls voll und ganz.

ahn, Neue Zürcher Zeitung, Online-Ausgabe, 08.08.2008


beograd gazela

Ein ansprechendes Charakteristikum der einzelnen Texte, aber auch der gesamten Buches liegt in der großen Sensibilität im Umgang mit visuelle Eindrücken: nicht nur in den einzelnen Texten versucht man ein "klares" Bild der Lebensverhältnisse in der Siedlung zu zeichnen. Auch weist das graphisch ansprechend gestaltete Buch sehr viele großformatige Farbfotografien auf, die ebenfalls dazu dienen, Gazela visuell erlebbar zu machen. Collagenhaft und weitgehend kommentarlos montierte Bilder lassen ein Image entstehen, das ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber dieser ungefilterten "Wahrheit" einer Elendssiedlung mitten in Europa vermittelt. Kulturwissenschaftlich betrachtet ist dieses Vorgehen nicht unproblematisch: Ungeachtet der Dichte der bildlichen Impressionen wird aus einem "Un-Ort" noch kein methodisch aufgeschlüsselter Ort.
(...)

beograd gazela

(...)
Solche Kritik ist leicht formuliert, allerdings muß berücksichtigt werden, dass "Beograd Gazela" eher als künstlerisch-experimentelle Annäherung denn als analytische wissenschaftliche Forschung begriffen werden will – das Buch ist ein gelungener Mix aus beidem. Von einer solchen Warte aus eröffnen sich in "Beograd Gazela" dann auch tatsächlich neue Perspektiven.
Als Reiseführer bietet das Buch kurze, kompakt aufbereitete und schnell abrufbare Informationen über die Bedingungen, die das Leben in Gazela bestimmen. Als Projekt zwischen Kunst und Wissenschaft führt es an einen Ort, der den Menschen in unmittelbare Nähe fremd ist und kommuniziert so die gleichzeitige Unvereinbarkeit und tragische Interdependenz dieser zwei Welten, den Irrwitz der Differenz mitten im "neuen Europa".

Jan Hinrichsen, Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Heft 2 2008


reisefÜhrer ins abseits

[...]
Das Autorenteam betritt mit dieser Stadtforschung einen mehrfach doppelten Boden und bewegt sich zwischen strikter Vermeidung von Sozialvoyeurismus und dennoch nicht unschuldiger Neugierde auf ein Terrain der Wissensproduktion, das ein besonders hohes Maß an Reflexion und Sensibilität erfordert. „Wer braucht so einen Reiseführer“? eine naiv formulierte Frage, die den Kern der Kritik an diesem komplexen Unterfangen trifft. Die Autoren geraten mit ihrem Projekt latent an Widersprüchlichkeiten: indem sie den Stadtteil metaphorisch als touristisches Ziel verorten, konterkarieren sie einerseits dessen Verdrängung im Belgrader Alltag, evozieren aber andererseits die Frage nach der städtischen Funktion, womit ein fataler Perspektivwechsel vom Nutzen der Stadt für die Bevölkerung hinzu Fragen über den Nutzen der Bevölkerung für die Stadt einhergehen könnte.

beograd gazela

Sie machen einerseits ihren Anspruch an eine „notwendige“ Wissensproduktion geltend, vernachlässigen jedoch andererseits die Frage, welche Art von Wissen aus Sicht der Bevölkerung zu produzieren sei. Sie fügen sich einerseits in westliche, marktwirtschaftliche Förderstrukturen und kritisieren andererseits aus dieser Position heraus Politiken der Wirtschafts- und Währungsunion. Die Paradoxien führen in Summe zu einer beunruhigenden Ambivalenz, die dieser „Reiseführer“ in sich trägt, indem er der Abseitsstellung eines Stadtteils hinterherleuchtet, der damit nicht mehr unnahbar, sondern exotisch und geheimnisvoll anziehend wirkt.
(...)

Christian M. Peer, Dérive, Juli-September 2008


Mitten in Europa: Zu Besuch in einem Slum.

„Das Wesentliche an einem Slum ist nicht die Armut, nicht die Gewalt, nicht die Arbeitslosigkeit, nicht der Verfall. Das Wesentliche eines Slums ist seine Unsichtbarkeit. Der Slum ist nebenan, aber man sieht ihn nicht.“ Karl-Markus Gauß hat auf seinen Reisen zu slowakischen Roma-Siedlungen  sehr genau hingeschaut. Fündig geworden wäre er freilich auch in anderen Teilen Europas. Etwa in Serbien, in der Hauptstadt Belgrad.
Lorenz Aggermann, Eduard Freudmann und Can Gülcü haben nach Besuchen und Interviews einen Reiseführer zu dieser „Destination“ verfasst – ein Mittelding aus Kunstprojekt und sozial-anthroplogischer Forschung.

beograd gazela

(...)
Gegliedert in der Art eines herkömmlichen Reiseführers wurden viele Informationen über die Siedlung und deren Bewohner – rund 1000 Menschen in 212 Haushalten – zusammengetragen.

(...)
Was an dem Gazela-Projekt, das nun in Buchform erschienen ist, Kunst ist, darüber kann man streiten. Hehre Wissenschaft ist es sicher nicht. Positiv ist, dass diese Debatte auch in das Buch aufgenommen wurde – als Transkript einer Diskussion anlässlich einer Präsentation des Projekts.

ku, Die Presse, Print-Ausgabe, 11.06.2008


Durchleuchteter Slum

(...)
Was eine Elendssiedlung wirklich ist, wissen nur die, die darin wohnen. In Slums gelten eigene Gesetze, und die sind nicht nur von Kontinent zu Kontinent höchst unterschiedlich, sondern selbst von einer dieser Siedlungen zur anderen. Eines haben sie meist gemeinsam: Die Bewohner von illegalen Siedlungen samt ihren Behausungen sind Stadtverwaltungen und Obrigkeiten ein steter Dorn im Auge. Das gilt für São Paulo, für Mumbai – und das gilt auch für Belgrad.

beograd gazela

(...)
Das Buch, das die schwierigen Lebensbedingungen der Menschen, die unter der Autobahn zu Hause sind, beschreibt, ist äußerst gelungen, weil es ganz lapidar eine nüchterne, kaum kommentierende Bestandsaufnahme liefert. Die Autoren haben gründlichst recherchiert, viel und lang mit den Leuten geredet, Statistiken zusammengetragen und die Fakten mit vielen Fotos zu einer Basispublikation verpackt, die jeder, der über Armut in Europa philosophieren will, studiert haben sollte.

Ute Woltron, Album/Der Standard, 26./27.04.2008


Die Gazelle von Belgrad

(…)
Wie alle solchen Handbücher ist "Beograd Gazela" mit vielen hochwertigen Fotos ausgestattet. Die Hälfte der Fotos zeigt die betrübliche Ansiedlung, sehr oft menschenleer. Man fragt sich: Wie ist das bei einer Bevölkerungsdichte von 1907 Einwohnern pro Quadratkilometer überhaupt möglich? Die wenigen Porträts überraschen: auf fast allen sieht man lachende Menschen. Das ist nicht "unser Lachen", das allen zeigen sollte, dass wir locker, zufrieden und erfolgreich sind. Das Lachen der Roma entspricht nicht unserem masken-ähnlichen Lachen. Das ist ein Lachen, welches nicht ein Zeichen, sondern ein Ausdruck ist. Bei ihnen lachen die Augen.

beograd gazela

Ohne diese Erfahrung zu idealisieren und daraus irgendwelche "romantische" Folgerungen zu ziehen, fragt man sich doch, wie es möglich ist, dass Menschen, die in solchem Elend leben, ihre Fähigkeit zu lachen nicht verloren haben. Das ist kein Plädoyer für den Erhalt der Siedlung "Beograd Gazela" im Zentrum von Belgrad und damit im Zentrum von Europa. Dieser "Reiseführer in eine Elendsiedlung" lehrt mehr über uns und unsere gesellschaftliche Verantwortung, als man das auf den ersten Blick merkt.

Text: Radovan Grahovac


»EIN NETTES BUCH MIT NETTEN BILDERN«

(…)
Das bereits im Titel als »Reiseführer« bezeichnete Buch, sprengt den Rahmen dieser Textsorte beabsichtigt. Im Prinzip funktioniert der Text auf mindestens drei Ebenen: als praktisch zu nutzender Reiseführer, als Dokumentation eines Kunstprojektes (v.a. als Fotoband) und letztendlich auch als Beitrag zu einer Debatte über die Finanzierbarkeit von Kunst allgemein, sowie die Frage von Ost-West-Hegemonien im Speziellen.

beograd gazela

(…)
Zunächst ist das Buch als tatsächlicher und informativer Reiseführer zu dieser exemplarischen Elendssieldung Gazela lesbar. Dafür sprechen zahlreiche darin gelistete Tipps und Infos für einen Besuch. Die eher praktisch und informativ gehaltenen ersten Kapitel unterstützen diese Lesart genauso wie die letzten Seiten, welche praktische Auskünfte über Anreise, Banken, Unterkunft und Sprache geben (ein sehr kurzer Sprachführer ist angeführt). Auch ein Glossar betont den Gebrauchswert Buches, außerdem wird eine an einem Lexikon orientierte Vernetzung der Inhalte innerhalb des Buches versucht. Schon daran ist eine sehr übersichtliche, informative und an praktischer Nutzung orientierte Struktur abzulesen, die sich in der Gliederung der Kapitel weiterverfolgen lässt. Eine klar ausgearbeitete Benutzerfreundlichkeit des Buches äußert sich außerdem in der teilweisen Beschriftung der Fotografien (Orientierung), der Leseliste, den Linktipps und dem Nachweis von Dokumenten.

(…)
Der künstlerische und andererseits explizit politische Input zeigt sich schließlich in zwei weiteren Aspekten: den dominierenden Fotografien und der fast durchgängigen Untermalung der Buchseiten von einem Subtext. Denn die einzelnen Kapitel werden, von einer Diskussion begleitet, welche die Autoren im Rahmen einer Präsentation ihres Projektes in dietheater Konzerthaus (Wien) geführt haben.

(…)
Neben vielen Kommentaren im Haupttext des Buches, die sich z.B. der Frage von sozialen und politischen Ursachen der Gazela widmen (Jugoslawienkriege, Flüchtlingsbewegung, aber auch das Vorgehen Deutschlands mit Flüchtlingen), ist es v.a. dieser geschickte Kniff, der das kritische, selbstreflexive, aber auch künstlerische Potential des Buches sichert. Dieser Subtext bietet gleichzeitig zahlreiche Subinformationen zum Projekt und zur Entwicklung des Buches. Durch die Integration des Arbeitsprozesses in das Ergebnis ebendieses (die ja das Buch letztendlich darstellt) ist eine selbstkritische Reflexion gewährleistet, die bei einem Projekt wie diesem, nur hilfreich und notwendig ist. Ziele und Nutzbarkeit werden thematisiert, starke Betonung liegt dabei konsequenterweise auf der Frage des Sponsoring und der Finanzierbarkeit des Kunstprojektes. Die Einleitung der Diskussion ist hierfür exemplarisch, die halb ironische, halb ernst gemeinte Vorstellung der Autoren als »Teil der neokolonialistischen Strategie der Erste Bank« und ihrer Arbeit als einer von »weißen, westeuropäischen, privilegierten, männlichen Künstlern«, die von »vornherein besetzt« und »nach ihrer Fertigstellung sofort in ein reines Fetischobjekt umgewandelt« wird, spricht für sich.

Rezension von Elena Messner


"DRAUßEN SIND WIR ALLE ZIGEUNER"

Drei Künstler aus Österreich haben einen Reiseführer für ein Belgrader Elendsviertel geschrieben. Auszüge aus einem Interview auf www.zuender.zeit.de

Es gibt viele Elendsviertel, auch in Europa. Warum geht es in Ihrem Projekt um die Siedlung Gazela in Belgrad?

Als wir an einer Ausstellung in Belgrad teilgenommen haben, fiel uns auf, wie präsent die Roma aus den Elendsvierteln im Stadtbild sind. (...) Gazela ist die exponierteste Armensiedlung in Belgrad, jeder, der in die Stadt fährt, hat Gazela gesehen.

beograd gazela

Wie haben Sie sich vorbereitet auf den Aufenthalt in der Siedlung?

Zunächst haben wir versucht, Informationen zu sammeln, über Elendssiedlungen in Belgrad und die Stellung der Roma in der serbischen Gesellschaft. Doch die Informationen, die wir bekommen haben, waren nicht viel wert. Wir hörten die bekannten rassistischen Vorurteile (...) Wir haben auch mit Wissenschaftlern und Politikern gesprochen. Die warnten uns, es sei gefährlich in der Siedlung, wir hätten einiges zu befürchten (...)

Gab es Konflikte mit Bewohnern, als Sie in die Siedlung gekommen sind?

Nein. Die Bewohner haben uns herzlich aufgenommen. Wir haben versucht, sie nicht unter Druck zu setzen und ihnen Bedenkzeit gegeben, bevor sie mit uns reden. (...) Im Gegensatz zu vielen serbischen Journalisten sind wir betont höflich auf die Bewohner der Siedlung zugegangen. Wir wollten nicht einfach nur schnell irgendein Statement aus Ihnen herauslocken.

Mit welchen Emotionen haben die Bewohner darauf reagiert, dass ihr Leben in ein Buch kommen soll?

Viele fanden es interessant, sich mit jemandem zu unterhalten, der aus der Siedlung heraus berichten möchte und sich dafür viel Zeit nimmt. Aber es gab auch Bewohner, die sich schämten, unter solchen Umständen zu leben. (...) Der Großteil der Bewohner ist überzeugt, dass der momentane Zustand Unrecht ist und nicht sie selbst die Schuld daran tragen. Menschen von außen sollen deshalb erfahren, wie es in der Siedlung zugeht.

War es deshalb besonders schwierig, diese Vielfalt im Buch angemessen darzustellen?

Beim Schreiben war das eine große Herausforderung. Wir haben oft über einzelne Formulierungen diskutiert, und wir haben stark darauf geachtet, nicht zu verallgemeinern. (...)

Ihre Beobachtungen sind nur eine Momentaufnahme der Situation in Gazela. Was ist seitdem passiert?

Die Siedlung verändert sich ständig. Seit kurzem gibt es eine Wasserstelle in der Siedlung, was natürlich die Lebensumstände erheblich verbessert. (...) In diesem Frühjahr sollten die Bewohner von Gazela umgesiedelt werden. Die Aktion wurde abgesagt, wie andere zuvor. Trotz dieser negativen Erfahrungen verbinden die Menschen in Gazela immer wieder große Hoffnungen mit solchen Vorhaben. (...)

Ein Pendeln also zwischen Hoffnung und Angst.

Ständige Angst vor allem um den Lebensraum. Denn es gibt keine Garantie, dass bei einer Umsiedlung jeder Bewohner ein neues Zuhause bekommt. (...) Das prägt sehr stark den flüchtigen Charakter von Gazela (...)

Fragen von Stefan Kesselhut


"Da sie Nomaden sind"

in: Stimme – Zeitschrift von und für Minderheiten. Nr. 64, Herbst 2007 S. 6-7

beograd gazela


Reiseführer in eine Elendssiedlung

Im zentralen Stadtteil Novi Beograd nahe dem Hotel Intercontinental, nur zwei Kilometer von Belgrads Altstadt entfernt, leben geschätzte 820 Roma in dürftigen Hütten bei der Autobahnbrücke „Most Gazela“, von der sich der Siedlungsname ableitet. Diesen „blinden Fleck“ im Stadtzentrum wählten Freudmann und Gülcü als Thema ihrer Diplomarbeit an der Akademie der bildenden Künste Wien. Gemeinsam arbeiteten sie mir Künstlern und Interessierten, wie Co-Autor Lorenz Aggermann, an ihrem Reiseführer in eine Elendssiedlung. (...)

beograd gazela

Ihr Buch beschreibt in Kapiteln wie Essen und Trinken, Wohnen und Gesundheit die Probleme im Leben der Gazela Bewohner: etwa gewalttätige Übergriffe gegen Roma, die keine Seltenheit sind. Und die Täter müssen kaum Konsequenzen seitens der Behörden befürchten. Fehlende Versorgung mit Wasser und Strom sind ebenfalls Alltagsprobleme in der Gazela. Die Autoren bieten bewusst keine Patentlösung: „Das Buch ist mehr eine Dokumentation und dazu da, fehlendes Wissen zu vermitteln“ sagt Gülcü. (...)

Das Ziel der Autoren war es, Bewusstsein zu schaffen „und eine Grundlage für weitere humanitäre oder kulturelle Projekte zu bieten.“ Den Bewohnern erklärten Freudmann und Gülcü, das Buch solle „dazu führen, dass Leute in die Siedlung kommen, es sich anschauen, Kontakte aufnehmen“. Ihre Leser sollen angeregt werden, sich tiefer mit der Gazela zu befassen. Denn für die lokale oder europäische Öffentlichkeit ist die Gazela kein dringliches Thema. „Viele Roma-NGOs beschäftigen sich eher mit Klientel, die ,gesettelter‘ ist“, meint Gülcü. Und westliche Hilfsorganisationen scheitern oft an ihrer schematisierten Herangehensweise und am Unwissen über die sozialen Strukturen. Aggermann fixiert das Problem: „Man sieht immer nur das Elend, aber bedenkt nie, dass es gewachsene Strukturen sind – sowohl ökonomisch als auch sozial.“

Artikel von Georg Horvath und Romana Riegler, Der Standard, 2. Oktober 2007


Vom Leben unter der Belgrader E-75-Brücke

Reiseführer als Kunstprojekt über aus Österreich oder Deutschland nach Serbien abgeschobene Roma, die in der Stadt der KartonsammlerInnen landen.

(...)
Can Gülcü schrieb nach monatelangen Recherchen, die sich über Jahre zogen, gemeinsam mit Eduard Freudmann, den erwähnten Reiseführer als Kunstprojekt. Die beiden lebten in der Nähe der Siedlung. "Nach ein paar Stunden in der Siedlung fühlten wir uns, als hätten wir tagelang nicht geschlafen", lacht Can. Die Distanz der beiden, die nicht direkt in der Siedlung leben wollten, hatte Methode. "Roma werden gerne distanzlos behandelt. Zum Beispiel werden sie von den meisten geduzt", meint Eduard Freudmann.

beograd gazela

"Wir wollten nicht so vorgehen, z. B. mit Hilfe von Erlebnisberichten sozusagen aus dem Mund der Siedlung zu sprechen, sondern eine Annäherung, die auf Respekt und Höflichkeit beruht, riskieren."

"Man kann auch hingehen und ein Werk wie Kusturicas Filme machen. Diese schrägen Typen findet man überall", erklärt Can. Die künstlerische Zurückhaltung, die ohne Anekdoten auskommt, und der sehr nüchterne Stil des Reiseführers, sollen einer weiteren Emotionalisierung und Mystifizierung der Roma vorbeugen. "Es gibt viele Vorurteile über Roma, z. B. hört man oft: Egal, wie arm sie sind, sie sind glücklich", sagt Can. "Oder: Lustig ist das Zigeunerleben. Wir wollten auf die Bedienung klassischer Klischees verzichten und auch nicht pittoreske Armut darstellen", wirft Eduard ein. Und Can weiter: "Viele sagen, die wollen nicht anders leben, dabei sind Roma Opfer von sehr vielschichtigem Rassismus und Bürger letzter Klasse. Sie wollen nicht so leben, sondern sie müssen so leben. Man kann nicht jede missliche Lage damit erklären, dass sie eine andere Kultur haben. Aber man muss die speziellen Anforderungen einer Gruppe respektieren, wenn man an der Verbesserung ihrer Lebensumstände arbeiten will." (...)

Artikel von Kerstin Kellermann, Augustin Juni 2007