Beograd Gazela – Reiseführer in eine Elendssiedlung führt in einen weißen Fleck inmitten Europas – in einen Roma-Slum im Zentrum Belgrads: Wie lebt man ohne städtische Infrastruktur, ohne Wasser, ohne Strom? Wie organisieren sich die BewohnerInnen, welcher Arbeit gehen sie nach? Wie steht es mit ihrer medizinischen, wie mit ihrer kulturellen Versorgung?
Der Reiseführer richtet den Blick auf einen Ort, an dem sich paradigmatisch die jüngere Geschichte der Roma in Südosteuropa ablesen lässt. Er informiert über grundlegende soziale wie ökonomische Strukturen einer Elendssiedlung, über ihre BewohnerInnen und deren Alltag und legt die vielschichtigen Mechanismen der Marginalisierung und Diskriminierung von Roma offen.
In Belgrad gibt es an die 150 Siedlungen, die dem gängigen Sprachgebrauch nach als Slums oder Elendssiedlungen bezeichnet werden können. Ihre genaue Anzahl lässt sich nicht festlegen, denn es fehlen einheitliche Kriterien zur Definition: Ab welcher Größe ist eine Ansammlung von Hütten und Baracken als Siedlung zu betrachten? Ist die Anzahl der BewohnerInnen oder jene der Häuser ausschlaggebend? Und vor allem: Was ist eine Elendssiedlung?
Wer diesen Fragen nachgehen will, wird kaum eine Antwort finden, da solche Siedlungen in Serbien weitgehend ignoriert werden und im Ausland nahezu unbekannt sind – obwohl die europäischen Wohlstandsländer durch Rückführung von abgewiesenen MigrantInnen erheblich zu ihrem Entstehen und raschen Wachstum beitragen. Information über Entwicklung und Zustand der Elendssiedlungen oder über deren BewohnerInnen ist kaum vorhanden und doch sind diese im Alltag von Belgrad mehr als präsent. Besonders auffällig wird das am Beispiel jener Siedlung unterhalb der Autobahnbrücke Gazela: Mitten in der Stadt gelegen, fahren tagtäglich Zehntausende an den Hütten und Baracken vorbei; dennoch gibt es kaum Menschen, welche die Siedlung besucht haben, ihre BewohnerInnen kennen oder sich mit deren Lebensumständen auseinandergesetzt haben. Die einzige Möglichkeit, dieses gravierende Manko abzuschaffen, ist, sich selbst in solche Siedlungen zu begeben, Kontakt mit den BewohnerInnen aufzunehmen und ihnen jene Aufmerksamkeit zu widmen, welche üblicherweise andere Orte und Menschen einer Stadt für sich beanspruchen.
Beograd Gazela – Reiseführer in eine Elendssiedlung führt in einen weißen Fleck inmitten Belgrads, um dessen Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein neu zu definieren und diesen für die gegenwärtige Geschichte Serbiens so markanten, wichtigen Ort in die Topologie der Stadt zu integrieren. Er soll aber nicht nur die LeserInnen dazu animieren, Gazela oder ähnliche Siedlungen zu besuchen, um sich unmittelbar mit der Situation auseinanderzusetzen, der Reiseführer macht auch auf die vielschichtigen Mechanismen der Marginalisierung und Diskriminierung von Roma aufmerksam und will mit der fundierten Beschreibung dieses Soziotops eine allgemeine Basis für weitere humanitäre und politische Projekte schaffen. Auch jenen LeserInnen, die sich nicht unmittelbar auf die Reise begeben wollen, wird der Reiseführer Einblick in einen Ort geben, der exemplarisch für den Wohn- und Lebensraum zehntausender BelgraderInnen steht, die aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen sind, und an dem sich geradezu paradigmatisch die jüngere Geschichte der Roma in Südosteuropa ablesen lässt.
Aufbau und Inhalt
Zu Beginn führt ein plastisch gestalteter Rundgang in die Siedlung ein, ergänzt wird dieser von konkreten Fakten zum Thema Wohnen, Bevölkerung und Landschaft. An diese Basisinformationen schließen stärker sozial gefärbte Kapitel wie Gesundheit, Wirtschaft und Transport an. Die Kapitel Essen und Trinken, Einkaufen sowie Religion und Feierlichkeiten, bieten den LeserInnen Einblicke in den Alltag einer Elendssiedlung, während sich die abschließenden Teile Kultur und Bildung, Gesellschaft, Politik verstärkt mit der Marginalisierung und Diskriminierung der BewohnerInnen beschäftigen und somit die Hintergründe für die Existenz einer solchen Siedlung beleuchten. Am Ende soll die Schilderung der geplanten Umsiedlung auf den prekären, flüchtigen Charakter des Alltags in Gazela aufmerksam machen. Praktische Informationen, ein kleiner Sprachführer und das Glossar sollen den tatsächlichen Gebrauchswert des Reiseführers hervorheben.
Die einzelnen Kapitel werden darüber hinaus von einer Diskussion begleitet, welche Eduard Freudmann und Can Gülcü im Anschluss an eine Präsentation des Projekts am 14. Jänner 2007 im dietheater-Konzerthaus Wien geführt haben. Diese Einwürfe und Kommentare im O-Ton durchziehen das Buch jeweils am unteren Ende der Seite, dokumentieren die Entstehung, sowie weitere, selbst nach Abschluss des Typoskriptes offen gebliebene Fragen und betten das Projekt in jenen Kontext ein, aus dem es hervorgegangen ist – den der zeitgenössischen Kunst.